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Seminararbeiten Rechtsgeschichte

Autor: Lutz Mager


Wege völkischer Rechtserneuerung: Rechtsquellenlehre und Auslegung als Gesetzgebungsersatz

 

I. Einleitung *

II. Die neue Rechtsidee *

1. Rechtsidee in der Weimarer Republik *
2. Kritik der Nationalsozialisten *
3. Idee des neuen Rechts *
4. Dualismus von Recht und Gesetz *
5. Aufhebung der Trennung von Recht, Politik und Moral *

III. Methoden der Rechtserneuerung *

1. Die neue Rechtsquellenlehre *
a. Inhalt der nationalsozialistische Weltanschauung *
b. Parteiprogramm der NSDAP *
c. Führerwillen *
d. gesundes Volksempfinden *

2. neue Auslegungsmethoden und Rechtsgrundbegriffe *
a. Auslegungsziel: Vorrang nachrevolutionärer Gesetze *
b. Generalklauseln *
c. Gemeinwohlformeln *
d. unbestimmte Rechtsbegriffe als neue Rechtsgrundbegriffe *

IV. Zusammenfassung *

 

Wege völkischer Rechtserneuerung: Rechtsquellenlehre und Auslegung als Gesetzgebungsersatz

 

I. Einleitung

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Damit war die nationalsozialistische 'Revolution' geglückt, die Phase der Herrschaftssicherung konnte beginnen. Dies geschah zum einen durch zahlreiche Notverordnungen, die schnell wesentliche Verfassungsmerkmale beseitigten.

Andererseits war das neue Regime außerstande, nach der nur politischen Umwälzung auch eine neue, umfassende Rechtsordnung zu erlassen. Die alten, vorrevolutionären Gesetze galten - von marginalen Eingriffen abgesehen - immer noch und mußten nun im Lichte des neuen Staates angewendet werden. Roland Freisler formulierte diesen Sachverhalt wie folgt:

"Nun aber ist uns das Recht etwas ganz anderes geworden."

Die alte Gesetzesordnung mußte daher mit neuen Inhalten gefüllt werden. Für eine solche Rechtserneuerung waren planvolle und zielgerichtete Strategien nötig. Diese darzustellen ist Aufgabe dieses Referates.

II. Die neue Rechtsidee

Jeder Rechtsordnung, allem Recht liegt eine Vorstellung zugrunde, aus der sich seine Wahrheit und Richtigkeit ergibt. Diese Grundlage des Rechts, hier Rechtsidee genannt, bestimmt grundlegend jede Rechtsfindung. Die Rechtsidee beherrschen heißt damit, das Recht zu beherrschen.

1. Rechtsidee in der Weimarer Republik

Grundlage für das Gesetzesrecht in der Weimarer Republik war die liberale und rechtsstaatliche Verfassung. Die bis zur Machtergreifung vorherrschende Rechtslehre war zwar ein instrumentaler, nicht nach materialer Gerechtigkeit forschender Gesetzespositivismus bzw. Normativismus. Diesem zufolge war das Recht ausschließlich und lückenlos in den Gesetzen niedergelegt und mußte aus diesen geschöpft werden. Die Rechtslehre war somit prinzipiell unpolitisch und weltanschaulich neutral (Idee des formeller Rechtsstaats).

Die den Gesetzen zugrundeliegende Verfassung war jedoch im Sinne einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung stark von liberalem Gedankengut beeinflußt.

Grundlegende Norm des Liberalismus war und ist die Freiheit des einzelnen. Sie zu schützen sei Endzweck aller politischen Vereinigungen. Die Staatsmacht wurde demzufolge in ein strenges Gesetzeskorsett eingebunden, um einerseits die staatliche Machtausübung zu begrenzen und andererseits bestmögliche Voraussehbarkeit staatlichen Handelns zu gewährleisten. Maßgebliches Instrument war dazu das in strenger Gewaltenteilung zustande gekommene Gesetz.

Der Frage, ob das Gesetzesgerüst des liberalen Staates auch den Maßstäben der Gerechtigkeit entspricht, kam nun eine zentrale Bedeutung zu. Einerseits wurde eine Gerechtigkeitsgrundlage in der 'normativen Kraft des Faktischen', etwa durch eine gesellschaftliche Umwälzung, gesehen. Andererseits bedeutete - der normativen Betrachtungsweise entsprechend - eine strenge prozedurale Bindung des Gesetzgebungsverfahrens (übrigens auch heute noch) tendenziell die materiale Richtigkeit eines Gesetzes. Zusätzlich begründete ein Bekenntnis zu übergesetzlichen, oft naturrechtlichen Werten auch die Richtigkeit des daraus entstandenen Gesetzesrechts. Die Begriffe >Recht< und >Gesetz< wurden und werden daher in Verfassungsordnungen, welche die Freiheit des einzelnen beispielsweise in Grundrechtskatalogen bekennend positiv festgehalten haben, als deckungsgleich angesehen.

2. Kritik der Nationalsozialisten

An dieser Stelle griff die nationalsozialistische Kritik: aus einem Gesetz sei kein Recht zu schöpfen, ein solches wäre lediglich eine erstarrte Form ohne jede Wertungen. In bezug auf das demokratische Gesetzgebungsverfahren wurde vorgetragen, daß alle Grundsätze im Strudel der Kompromißverhandlungen untergehen und letztlich nur bloße Logik und Abstraktion übrigbleiben würden. In Wahrheit würde die liberalistische Zeit nur von einem Mangel an wahren Führerpersönlichkeiten geprägt sein. Ein totes Schema habe durch die Macht der Routine in Form des Rechtes der Gewohnheit jedes Schöpferische aus dem Rechtsleben getilgt.

Zudem wendete man sich gegen die Einzelbezogenheit des liberalistischen Denkens. Sinn des Lebens war nicht mehr die individuelle Selbstverwirklichung, sondern lag im Leben für die Gemeinschaft begründet.

3. Idee des neuen Rechts

Eine neue Rechtsidee wurde verkündet: Recht sei nun etwas Lebendiges, von täglich kleinen Revolutionen Bewegtes, so daß gerechte Rechtsfindung nur mit 'Herz und heißem Sehnen' zu Gerechtigkeit führen kann. Es waren die 'eigentümlichen geistigen Möglichkeiten unserer Rasse, unseres Volkstums' endlich wiederherzustellen, da schließlich die wirkliche Lebensordnung des Volkes Recht im ursprünglichsten Sinne darstelle.

Ausgangspunkt war nicht mehr die Freiheit des einzelnen, sondern die Erhaltung und Förderung der Gemeinschaft, genauer der deutschen Blutsgemeinschaft. Sinn des Lebens des einzelnen lag in seinem Leben für die Gemeinschaft; das Volk als wirkliches Lebewesen erhöhe - natürlich nur im Falle der Blutsgleichheit - das Leben des einzelnen. Aus dieser Gemeinschaft mußte demnach alles, auch das Recht, entstehen.

4. Dualismus von Recht und Gesetz

Recht und Gesetz sollten nicht mehr als deckungsgleich angesehen werden. Reine Gesetzestreue wurde als leerer, formaler Normativismus und Positivismus verworfen. Stattdessen berief man sich auf einen Dualismus von Recht und Gesetz, so daß das Gesetz nunmehr nur eine Erscheinungsform des Rechts darstellte. Das Gesetz stand der neuen Rechtsidee jedoch nicht gleichrangig gegenüber. Die völkische Lebensordnung war Richtschnur aller Gerechtigkeit. Gegen ihre Wertungen durfte ein Gesetz nicht verstoßen. So durfte ein Richter ein (i.d.R. altes) Gesetz durch Nichtanwendung dann 'korrigieren', wenn es gegen das wiedererwachte Volksempfinden verstieß. Für die Möglichkeit, störendes 'altes' Gesetzesrecht jederzeit beseitigen zu können, war damit die Grundlage errichtet.

5. Aufhebung der Trennung von Recht, Politik und Moral

Beim Rückbezug allen Rechts auf die Gemeinschaft sollte eine weiteres Merkmal des alten Rechts überwunden werden: die Trennung von Recht und Politik sowie von Recht und Sittlichkeit. Die nach liberalem Staatsverständnis notwendige Differenzierung hatte nun, da das liberale Staatsdenken überwunden und die sittliche Ordnung als Bestandteil des völkischen Zusammenlebens miteinbezogen wurde, seinen eigentlichen Sinn verloren. Alle Erscheinungen und Vorgänge des Lebens sollten nun in der neuen Weltanschauung ihre Grundlage haben. Die NSDAP würde die neue Ordnung nicht aufzwingen, sondern selbst darstellen. Das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 unterstrich diese Vorstellung ausdrücklich (vgl. § 1: ... ist die NSDAP die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden.).

Durch eine systematisch an die Naturrechtsdogmatik angelehnte Berufung auf übergesetzliche Normen wandte sich der Nationalsozialismus damit sowohl gegen eine liberale Gesellschaftsordnung als auch gegen den Normativismus. Die Basis für ein totales Herrschaftssystem war gelegt.

Diese neue Rechtsidee war von rassischen Grundwerten geprägt, Auf spezifische Inhalte dieses neugewonnenen 'Volksgeistes' wird später einzugehen sein. Hervorzuheben ist der aggressive Charakter der neuen Rechtsidee. Daß das Recht nun nur noch die Interessen eines Teils der Bevölkerung - nämlich der deutschen - wahrnehmen sollte, störte nicht im geringsten. Der Weg war frei für zahllose Merksätze wie diesen:

"Recht ist, was dem deutschen Volke nützt, Unrecht, was ihm schadet."

Damit diese Weltanschauung auch wirklich das gesamte Rechtsleben und damit auch das gesamte Volk erfassen würde, mußte nun überprüft werden, welche der alten Begriffe und Methoden den 'neuen Geist' in sich aufzunehmen vermochten oder aber als "schädliche Überbleibsel verworfen" werden mußten. Darauf ist im folgenden einzugehen.

III. Methoden der Rechtserneuerung

Erklärtes Ziel der Rechtsrevolution war eine "Auslegung zur Einlegung der nationalsozialistischen Weltanschauung", die Dienstbarmachung der gesamten Rechtsordnung im Sinne der neuen Staatsideologie. Carl Schmitt stellte diesbezüglich fest:

"Sobald Begriffe wie 'Treu und Glauben', 'gute Sitten' usw. auf das Interesse des Volksganzen bezogen werden, ändert sich in der Tat das gesamte Recht, ohne daß auch nur ein einziges 'positives' Gesetz geändert zu werden brauchte."

Bislang war es Aufgabe der Richterschaft, durch Auslegung der Gesetze den Inhalt entsprechender Klauseln zu ermitteln. Zur Erfüllung dieser Aufgabe war der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit von zentraler Bedeutung: Eingriffe von seiten der Politik wären gleichbedeutend mit einem Status blanker Willkür der Herrschenden.

Zum einen wurde dieser Grundsatz von nationalsozialistischer Seite fortwährend angegriffen. Andererseits wurde die Richterschaft durch gezielte Personalpolitik zumindest langfristig 'angepasst' zur Sicherstellung der neuen Einheit. Einen dritte Pfeiler bildeten eine Reihe von Empfehlungen an die Richterschaft. Diese Empfehlungen waren begleitet von Darlegungen im juristischen Schrifttum, nach welchen die nationalsozialistische Weltanschauung auch schon nach den herkömmlichen Methoden bei der Gesetzesauslegung zu berücksichtigen sei. Auf diese Weise konnten sogar direkte, allzu offensichtliche Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit unterbleiben.

Die zwingende Berücksichtigung der nationalsozialistischen Weltanschauung ergab sich zunächst aus einer neuen Rechtsquellenlehre.

1. Die neue Rechtsquellenlehre

Als Rechtsquelle werden die Grundlagen bezeichnet, in denen der Richter das anzuwendende Recht zu finden hat; Rechtsquellen stellen den Erkenntnisgrund für etwas als positives Recht dar. Klassische Rechtsquellen sind die Verfassung, das einfache Gesetz, Verordnungen, Satzungen sowie Gewohnheitsrecht.

Diese 'alten' Rechtsquellen waren mit der nationalen Erhebung überwunden. Eine neue Rechtsidee war proklamiert. Fraglich war nur, wie sich die eher unpräzisen Formulierungen vom Wesen des Volkes bzw. der Volksgemeinschaft mit Inhalt füllen sollten. Man verwies hierzu auf Grundwertungen der nationalsozialistische Weltanschauung, das Parteiprogramm der NSDAP, den Führerwillen und das gesunde Volksempfinden.

a. Inhalt der nationalsozialistische Weltanschauung

Allumfassend und doch inhaltlich unklar war die häufig verwendete Formulierung der nationalsozialistischen Weltanschauung. Klar war nur, das die Weltanschauung von prinzipieller Bedeutung sein sollte. Grundlage war die Einheit von Politik und Staat, genauer von Partei und Staat. Dessen Ziel war die Beseitigung alles 'alten und jüdischen' aus dem gesamten öffentlichen Leben. Diese nationalsozialistische Staatsideologie wurde als ausschließliches und wahres Volksbewußtsein ausgerufen:

"Wie überall, muß auch auf dem Gebiete des Rechts die Partei und ihre Idee den Staat lenken, denn der Staat ist auch im Recht nur Mittel des Führers zur Verwirklichung des Nationalsozialismus."

Als Recht galt nach Parteiräson nur dasjenige, das die Substanzwerte des Volkes schützt. Bestimmend war daher an der nationalsozialistischen Weltanschauung die ihr zugrunde liegende Rassenideologie. Weitere Elemente lieferte der starke Judenhaß, die Vergötzung des (angeblichen) biologischen Auslesekampfes sowie das Bekenntnis zum Führerprinzip. Insgesamt bot die Berufung auf die nationalsozialistische Weltanschauung eine willkommene Möglichkeit, sich bei jeder unerwünschten Entwicklung mehr oder minder spontan auf deren Nichtkonformität zu berufen.

b. Parteiprogramm der NSDAP

Eine weitere neue Rechtsquelle war das 25-Punkte-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920. Die Partei war als Stimme des Volkes auch in ihrem Programm nicht als Rechtssetzer, sondern als Stimme des Volksgewissens tätig geworden. Insbesondere die Punkte 4 und 5 wurden oft als unmittelbar geltendes Recht herangezogen:

"4. Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.

5. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremdgesetzgebung stehen."

Ferner wurde der Programmsatz "Gemeinnutz vor Eigennutz" aus Punkt 24 hervorgehoben. Die oben dargestellte Einheit von Politik und Staat wurde damit auf die Spitze getrieben. Ein praktisch direkt nach dem Kriege entworfenes, politisch bedeutungsloses und intern verachtetes Pamphlet war plötzlich zur hochrangigen Rechtsquelle geworden und wurde in der Rechtslehre häufig herangezogen.

c. Führerwillen

Wurde für die vom Liberalismus bestimmte Vergangenheit noch noch ein Mangel an Führerpersönlichkeiten beklagt, so traf dies für die Zeit nach 1933 nicht mehr zu. In dem Führer nun sollte sich das Rechtswollen des Volkes, die oberste Erkenntnisquelle des Rechtes, manifestieren: dem Gesetzesrecht ging der formlose Führerbefehl vor.

Die Person Adolf Hitlers wurde schlicht vergöttert: ein gottgesandter Führer, der als Auserwählter den Volksgeist Angesicht zu Angesicht geschaut hat, öffnete nun seinem Volk die Augen. Als Verkünder der neuen Weltordnung sei er selbstverständlich der neue Gesetzgeber.

Diese nach der nationalsozialistischen Rechtslehre folgerichtige Entwicklung hatte die vollständige Freiheit der politischen Führung von jedweder Bindung zur Folge. Die auf eine Person reduzierte Regierung bestimmte die Maßstäbe ihres Handelns selbst.

d. gesundes Volksempfinden

Als ein weiteres Mittel, um die NS-Ideologie in das geltende Recht zu pressen, war die Berufung auf das gesunde Volksempfinden. Dies wurde bestimmt als das rassisch bedingte, im Volke gegenwärtig herrschende Richtigkeitsempfinden. Dieses Empfinden sollte sich auf die Reinheit des Blutes, die Stärkung der Lebenskraft des Volkes, die Programmfloskel 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' sowie den Schutz des Staates beziehen.

Die Unbestimmtheit der als 'lebendig' beschriebenen Rechtsquelle, die nur 'innerlich zu erfassen' war und damit der Verlust jeglicher Rechtssicherheit bedeutete, wurde nicht als problematisch angesehen. Zum einen wäre jedem Volksgenossen der Wandel der Sittenordnung stets bekannt, läge ihm sozusagen 'im Blut'. Zum anderen sei der Begriff der Rechtssicherheit neu definiert worden: er beträfe nur noch die Voraussehbarkeit der Folgen anständigen Handelns. Um immer noch in voller Rechtssicherheit zu leben, müßte sich jeder nur anständig verhalten. Dies wäre schon deswegen völlig unproblematisch, weil jeder Volksgenosse die aktuellen Maßstäbe des Anstandes 'in sich trägt'.

Die Tragweite dieser Argumentation ist immer wieder hervorzuheben: das gesunde Volksempfinden war nicht nur Maßstab für die Rechtsfindung bei unbestimmten Rechtsbegriffen oder Generalklauseln. Im Konfliktfall war der Richter aufgrund dieser Rechtsquelle ermächtigt, Gesetzesrecht nicht anzuwenden.

2. neue Auslegungsmethoden und Rechtsgrundbegriffe

Neben der neuen Rechtsquellenlehre wurden auch neue Auslegungsmethoden diskutiert. Das Ziel des Methodendiskurses sollte ebenso wie alle übrigen Darstellungen und Bemühungen letztlich dem Rechtswillen der Gegenwart bzw. der politischen Führung uneingeschränkte Geltung verschaffen.

a. Auslegungsziel: Vorrang nachrevolutionärer Gesetze

Bei der Gesetzesauslegung war zunächst ein Problem zu bewältigen, das sich dann stellte, wenn ein Gesetz aus der Weimarer Zeit unvereinbar erschien mit einem der Nationalsozialisten. Die Lösung stand natürlich von vornherein fest: 'volksfeindliche' Gesetze sollten nicht angewendet werden. Lediglich über die Methode bestand Streit.

Zum einen sollte eine stärkere objektive Auslegung in den Wortlaut des Gesetzes den gegenwärtigen Rechtswillen 'hineinlesen'. Beweggründe des Gesetzgebers zum Zeitpunkt des Erlasses wären nachrangig zu berücksichtigen.

Andererseits wurde vorgeschlagen, bei nachrevolutionären Gesetzen durch subjektiv-teleologische Auslegung sehr streng nach dem Wortlaut auszulegen. Nur durch sie sei unverfälschte Geltendmachung des Führerwillens zu erreichen.

Der methodischen Unklarheit angemessen war auch die Anwendung beider Methoden zur Erreichung des vorbestimmten Ziels unter den Vorschlägen. Da das Ergebnis ohnehin stets feststand, schien der Methodenstreit noch ein Überbleibsel aus vergangener, von normativem Rechtsdenken geprägter Zeit. Auch die scheinbare Fortführung solcher Methodendiskurse konnte letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, wohin man sich begab: ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

In diesem Zusammenhang entwickelte sich in der Rechtsprechung zudem eine 'Kampfklausel', eine Generalklausel zur Nichtanwendung von alten Gesetzen. Unter Berufung auf den Willen der Regierung war es damit möglich, unerwünschte geltende Gesetze zu überspielen.

b. Generalklauseln

So wie Generalklauseln heute als Einbruchstellen für Wertungen des Grundgesetzes gelten, wurden sie auch im Nationalsozialismus als Einbruchstellen für die herrschende Wertanschauung, insbesondere der Rassenlehre, verwendet.

Bereits in der Weimarer Republik hatten Generalklauseln erhebliches Gewicht gewonnen. In der berühmten Reichsgerichtsentscheidung RGZ 107, 78 wurde unter Berufung auf die Generalklausel des § 242 BGB der gesetzlich fixierte Grundsatz 'Mark gleich Mark' aufgegeben. Im grundsätzlichen Bewußtsein um ihre Gefährlichkeit wurde unter Hinweis auf die Gewissenhaftigkeit des deutschen Richterstandes die Verwendung von Generalklauseln mit erheblicher Tragweite alltäglich.

Grundsätzlich war der sich in der Beliebtheit der Generalklauseln offenbarende Irrglaube an die Lückenlosigkeit des Gesetzes willkommenes Schmähziel der Nationalsozialisten. Während entsprechende Klauseln in der liberalen Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik jedoch lediglich Floskeln zur unbedingten Erhaltung des Individualschutzes bzw. der Individualwillkür darstellten, seien nun die Zeit gekommen, die leeren Worte mit Inhalt zu füllen. Damit machte man sich bewußt die Generalklauseln zunutze. Die Schwierigkeit, den Inhalt solcher wertoffener Begriffe zu bestimmen, erleichterte diese Zielsetzung erheblich.

Zwar war für die alte liberalistische Rechtslehre klar, daß es sich etwa beim Begriff 'Treu und Glauben' um einen objektiven Begriff ohne subjektive Wertungen handeln müsse. Dieser sei jedoch "leichter zu empfinden als klar zu formulieren". Insgesamt wendete man diese Formel im Sinne einer unparteiliche Abwägung der beteiligten Interessen an.

Die Relativität von Rechtsverhältnissen war nach 1933 zugunsten einer allumfassenden Volksbezogenheit durchbrochen. Die sittlichen Wertungen hatten sich mit den rechtlichen vermischt. Maßgeblich war somit die herrschende Wertauffassung. Und geherrscht wurde in "heldischer Entschlossenheit": jegliche Unterwerfung unter fremdes Rechtsdenken war zu verhindern. In jedem Rechtsverhältnis war nun neben den Parteiinteressen zugleich das unmittelbare Volkswohl betroffen. Dieses galt es stets zu berücksichtigen. Die Unmöglichkeit andersliegender Entscheidungen als solcher nach nationalsozialistischer Doktrin wurde zum beherrschenden Dogma.

Die Wirkung der Generalklausen beschränkte sich nun nicht nur auf das Bürgerliche Gesetzbuch. Vielmehr wurde auch hier eine Entwicklung der Weimarer Zeit fortgesetzt. Generalklauseln waren schon dort in allen Rechtsgebieten auf dem Vormarsch. Neben wettbewerbsrechtlichen (§ 1 UWG) und strafrechtlichen Vorschriften waren auch die zahlreichen Notverordnungen der letzten Jahre der Republik sowie letztlich Art. 48 WRV selbst durchzogen von Generalklauseln. Im Dritten Reich sollte sich die (damals noch warnende) Prophezeihung Hedemanns erfüllen:

"Wo eine übergeordnete Macht Generalklauseln setzt und unabhängige Richter die Klauseln handhaben, bleiben die Klauseln trotz ihrer Beweglichkeit Maßstäbe. Wenn aber der Staat als oberste Macht selbst die Generalklauseln für sein eigenes Verhalten setzt, fließt der Beweglichkeitsfaktor mit dem Machtfaktor in eins zusammen, die Generalklausel hört auf Maßstab zu sein und wird zur einseitig und unkontrollierbar zu führenden Waffe.

(...) An Stelle einer eingebildeten oder gar vorgetäuschten Gerechtigkeit setzt sich die Willkür."

c. Gemeinwohlformeln

Eine weitere Möglichkeit, die nationalsozialistischen Schlagwörter in der Gesetzesanwendung unterzubringen, bot die Berufung auf Gemeinwohlformeln. Zuerst tauchten solche in großer Vielzahl im Parteiprogramm der NSDAP auf: Interessen der Allgemeinheit (Punkt 10), nationale Bedürfnisse (Punkt 17), Gemeininteresse (Punkt 18), Gemeinwohl (Punkt 23) und schließlich Gemeinnutz (Punkt 24).

Durch die Trennung von Recht und Politik waren diese Formeln bereits unter den ohnehin anzuwendenden Auslegungsgrundsätzen. Zusätzlich wurden Gemeinwohlformeln nicht nur als Auftrag an den Gesetzgeber verstanden und verwendet, sondern auch als rechtspolitisches Programm jeder Rechtsanwendung durch den Richter.

Natürlich bestimmte sich das Gemeinwohl -wie alles 'Recht' - aus der nationalsozialistischen Weltanschauung. Durch die besondere inhaltliche Unbestimmtheit der Gemeinwohlbegriffe (sofern gegenüber dem oben Gesagten noch eine Steigerung möglich ist) war eine plötzliche Änderung der Willensrichtung zusätzlich erleichtert.

d. unbestimmte Rechtsbegriffe als neue Rechtsgrundbegriffe

Die proklamierte Einheit der Volksgesamtheit als Ursprung allen Rechts ist bereits beschrieben worden. Hieran anknüpfend entwickelten Carl Schmitt und Karl Larenz die neuen Rechtsgrundbegriffe des konkreten Ordnungsdenkens bzw. der konkret-allgemeinen Begriffe.

Rechtserscheinungen des Alltags, etwa ein Mietverhältnis, Arbeitsverhältnis, Vaterstellung oder Arbeitgeberposition wurden bisher als Bündel einer Vielzahl subjektiver Rechte und Pflichten verstanden. Dieses Bündel sollte sich nun in dem übergeordneten weltanschaulichen Zusammenhang zu einer Einheit zusammenfügen. Unter Bezugnahme auf reale Erscheinungsbilder (wie etwa die Familie, das Arbeitsverhältnis, die Hausgemeinschaft) wurden aus letztlich metaphysischen bzw. ideologisch geprägten Begriffen Rechtsfolgen abgeleitet.

Letztlich diente auch dieses juristische Konstrukt, die Erklärung allen Handelns zum Bestandteil einer höheren, völkischen Ordnung, wie alle anderen Leitlinien und Abhandlungen nur der Erreichung der erwünschten Rechtsfolgen, nämlich einer rücksichtslosen Hervorhebung des Deutschen an sich. Die Folgen solcher Argumentationsfolgen waren weitreichend und erschütternd:

"Nicht als Individuum, als Mensch schlechthin oder als Träger einer abstrakt-allgemeinen Vernunft habe ich Rechte und Pflichten und die Möglichkeit, Rechtsverhältnisse zu gestalten, sondern als Glied einer sich im Recht ihre Lebensform gebenden Gemeinschaft, der Volksgemeinschaft. Nur als in der Gemeinschaft lebendes Wesen, als Volksgenosse ist der Einzelne eine konkrete Persönlichkeit. Nur als Glied der Volksgemeinschaft hat er seine Ehre, genießt er Achtung als Rechtsgenosse. (...) Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte an Stelle des die Rechtsfähigkeit 'jedes Menschen' aussprechenden § 1 BGB an die Spitze unserer Rechtsordnung gestellt werden."

IV. Zusammenfassung

Die anfängliche Zielsetzung, die 'feindliche Übernahme' einer gesamten Rechtsordnung war geglückt. Durch die Proklamation einer neuen Rechtsidee waren die Gesetze der Weimarer Zeit nur noch ein Spielball der neuen Machthaber, der Nationalsozialisten.

Die Methoden folgten einander scheinbar zwingend: Recht und Gesetz war nicht mehr eins. Die Maßstäbe für die neugeschaffene Gerechtigkeit trafen in einem verwirrten Deutschland scheinbar auf fruchtbaren Boden. Hieraus ergibt sich das für den Juristen besonders Erschreckende: nicht die während der kurzen Herrschaftszeit der Nationalsozialisten erlassenen Gesetze zerstörten die ehemals liberale Rechtsordnung; vielmehr war es die Jurisprudenz selbst, welche die Freiheit des einzelnen ins Grab stieß. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 1957 heißt es dazu:

"Daß die im Urteil angeführten Zitate die damals so gut wie einhellig vertretene rechtswissenschaftliche Meinung [hier: zur ideologischen Gebundenheit des Berufsbeamtentums im 3. Reich, Anm. d. Verf.] richtig wiedergegeben habe, ist für jeden, der die Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland selbst miterlebt hat, evident und jedenfalls für das Bundesverfassungsgericht gerichtsbekannt."

Welche Schlüsse lassen sich nun aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen? Zum einen ist es der vorsichtige Gebrauch der dargestellten und oft ohne Bewußtsein ihrer Ideologieanfälligkeit angewendeten Methoden. Zum anderen ist es die stete Mahnung und das Erinnern an die Abgründigkeit, zu der der Mensch fähig ist.


 
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