Wege völkischer Rechtserneuerung: Rechtsquellenlehre
und Auslegung als Gesetzgebungsersatz
I. Einleitung *
II. Die neue Rechtsidee *
1. Rechtsidee in der Weimarer Republik *
2. Kritik der Nationalsozialisten *
3. Idee des neuen Rechts *
4. Dualismus von Recht und Gesetz *
5. Aufhebung der Trennung von Recht, Politik und Moral *
III. Methoden der Rechtserneuerung *
1. Die neue Rechtsquellenlehre *
a. Inhalt der nationalsozialistische Weltanschauung *
b. Parteiprogramm der NSDAP *
c. Führerwillen *
d. gesundes Volksempfinden *
2. neue Auslegungsmethoden und Rechtsgrundbegriffe *
a. Auslegungsziel: Vorrang nachrevolutionärer Gesetze *
b. Generalklauseln *
c. Gemeinwohlformeln *
d. unbestimmte Rechtsbegriffe als neue Rechtsgrundbegriffe *
IV. Zusammenfassung *
Wege völkischer Rechtserneuerung:
Rechtsquellenlehre und Auslegung als Gesetzgebungsersatz
I. Einleitung
Am 30. Januar 1933 wurde
Adolf Hitler von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler
ernannt. Damit war die nationalsozialistische 'Revolution'
geglückt, die Phase der Herrschaftssicherung konnte beginnen.
Dies geschah zum einen durch zahlreiche Notverordnungen, die
schnell wesentliche Verfassungsmerkmale beseitigten.
Andererseits war das
neue Regime außerstande, nach der nur politischen Umwälzung
auch eine neue, umfassende Rechtsordnung zu erlassen. Die
alten, vorrevolutionären Gesetze galten - von marginalen
Eingriffen abgesehen - immer noch und mußten nun im
Lichte des neuen Staates angewendet werden. Roland Freisler
formulierte diesen Sachverhalt wie folgt:
"Nun aber ist uns das Recht etwas
ganz anderes geworden."
Die alte Gesetzesordnung
mußte daher mit neuen Inhalten gefüllt werden.
Für eine solche Rechtserneuerung waren planvolle und
zielgerichtete Strategien nötig. Diese darzustellen ist
Aufgabe dieses Referates.
II. Die neue
Rechtsidee
Jeder Rechtsordnung,
allem Recht liegt eine Vorstellung zugrunde, aus der sich
seine Wahrheit und Richtigkeit ergibt. Diese Grundlage des
Rechts, hier Rechtsidee genannt, bestimmt grundlegend jede
Rechtsfindung. Die Rechtsidee beherrschen heißt damit,
das Recht zu beherrschen.
1. Rechtsidee
in der Weimarer Republik
Grundlage für das
Gesetzesrecht in der Weimarer Republik war die liberale und
rechtsstaatliche Verfassung. Die bis zur Machtergreifung vorherrschende
Rechtslehre war zwar ein instrumentaler, nicht nach materialer
Gerechtigkeit forschender Gesetzespositivismus bzw. Normativismus.
Diesem zufolge war das Recht ausschließlich und lückenlos
in den Gesetzen niedergelegt und mußte aus diesen geschöpft
werden. Die Rechtslehre war somit prinzipiell unpolitisch
und weltanschaulich neutral (Idee des formeller Rechtsstaats).
Die den Gesetzen zugrundeliegende
Verfassung war jedoch im Sinne einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung
stark von liberalem Gedankengut beeinflußt.
Grundlegende Norm des
Liberalismus war und ist die Freiheit des einzelnen. Sie zu
schützen sei Endzweck aller politischen Vereinigungen.
Die Staatsmacht wurde demzufolge in ein strenges Gesetzeskorsett
eingebunden, um einerseits die staatliche Machtausübung
zu begrenzen und andererseits bestmögliche Voraussehbarkeit
staatlichen Handelns zu gewährleisten. Maßgebliches
Instrument war dazu das in strenger Gewaltenteilung zustande
gekommene Gesetz.
Der Frage, ob das Gesetzesgerüst
des liberalen Staates auch den Maßstäben der Gerechtigkeit
entspricht, kam nun eine zentrale Bedeutung zu. Einerseits
wurde eine Gerechtigkeitsgrundlage in der 'normativen Kraft
des Faktischen', etwa durch eine gesellschaftliche Umwälzung,
gesehen. Andererseits bedeutete - der normativen Betrachtungsweise
entsprechend - eine strenge prozedurale Bindung des Gesetzgebungsverfahrens
(übrigens auch heute noch) tendenziell die materiale
Richtigkeit eines Gesetzes. Zusätzlich begründete
ein Bekenntnis zu übergesetzlichen, oft naturrechtlichen
Werten auch die Richtigkeit des daraus entstandenen Gesetzesrechts.
Die Begriffe >Recht< und >Gesetz< wurden und werden
daher in Verfassungsordnungen, welche die Freiheit des einzelnen
beispielsweise in Grundrechtskatalogen bekennend positiv festgehalten
haben, als deckungsgleich angesehen.
2. Kritik
der Nationalsozialisten
An dieser Stelle griff
die nationalsozialistische Kritik: aus einem Gesetz sei kein
Recht zu schöpfen, ein solches wäre lediglich eine
erstarrte Form ohne jede Wertungen. In bezug auf das demokratische
Gesetzgebungsverfahren wurde vorgetragen, daß alle Grundsätze
im Strudel der Kompromißverhandlungen untergehen und
letztlich nur bloße Logik und Abstraktion übrigbleiben
würden. In Wahrheit würde die liberalistische Zeit
nur von einem Mangel an wahren Führerpersönlichkeiten
geprägt sein. Ein totes Schema habe durch die Macht der
Routine in Form des Rechtes der Gewohnheit jedes Schöpferische
aus dem Rechtsleben getilgt.
Zudem wendete man sich
gegen die Einzelbezogenheit des liberalistischen Denkens.
Sinn des Lebens war nicht mehr die individuelle Selbstverwirklichung,
sondern lag im Leben für die Gemeinschaft begründet.
3. Idee
des neuen Rechts
Eine neue Rechtsidee
wurde verkündet: Recht sei nun etwas Lebendiges, von
täglich kleinen Revolutionen Bewegtes, so daß gerechte
Rechtsfindung nur mit 'Herz und heißem Sehnen' zu Gerechtigkeit
führen kann. Es waren die 'eigentümlichen geistigen
Möglichkeiten unserer Rasse, unseres Volkstums' endlich
wiederherzustellen, da schließlich die wirkliche Lebensordnung
des Volkes Recht im ursprünglichsten Sinne darstelle.
Ausgangspunkt war nicht
mehr die Freiheit des einzelnen, sondern die Erhaltung und
Förderung der Gemeinschaft, genauer der deutschen Blutsgemeinschaft.
Sinn des Lebens des einzelnen lag in seinem Leben für
die Gemeinschaft; das Volk als wirkliches Lebewesen erhöhe
- natürlich nur im Falle der Blutsgleichheit - das Leben
des einzelnen. Aus dieser Gemeinschaft mußte demnach
alles, auch das Recht, entstehen.
4. Dualismus
von Recht und Gesetz
Recht und Gesetz sollten
nicht mehr als deckungsgleich angesehen werden. Reine Gesetzestreue
wurde als leerer, formaler Normativismus und Positivismus
verworfen. Stattdessen berief man sich auf einen Dualismus
von Recht und Gesetz, so daß das Gesetz nunmehr nur
eine Erscheinungsform des Rechts darstellte. Das Gesetz
stand der neuen Rechtsidee jedoch nicht gleichrangig gegenüber.
Die völkische Lebensordnung war Richtschnur aller Gerechtigkeit.
Gegen ihre Wertungen durfte ein Gesetz nicht verstoßen.
So durfte ein Richter ein (i.d.R. altes) Gesetz durch Nichtanwendung
dann 'korrigieren', wenn es gegen das wiedererwachte Volksempfinden
verstieß. Für die Möglichkeit, störendes
'altes' Gesetzesrecht jederzeit beseitigen zu können,
war damit die Grundlage errichtet.
5. Aufhebung
der Trennung von Recht, Politik und Moral
Beim Rückbezug allen
Rechts auf die Gemeinschaft sollte eine weiteres Merkmal des
alten Rechts überwunden werden: die Trennung von Recht
und Politik sowie von Recht und Sittlichkeit. Die nach liberalem
Staatsverständnis notwendige Differenzierung hatte nun,
da das liberale Staatsdenken überwunden und die sittliche
Ordnung als Bestandteil des völkischen Zusammenlebens
miteinbezogen wurde, seinen eigentlichen Sinn verloren. Alle
Erscheinungen und Vorgänge des Lebens sollten nun in
der neuen Weltanschauung ihre Grundlage haben. Die NSDAP würde
die neue Ordnung nicht aufzwingen, sondern selbst darstellen.
Das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat
vom 1. Dezember 1933 unterstrich diese Vorstellung ausdrücklich
(vgl. § 1: ... ist die NSDAP die Trägerin des deutschen
Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden.).
Durch eine systematisch
an die Naturrechtsdogmatik angelehnte Berufung auf übergesetzliche
Normen wandte sich der Nationalsozialismus damit sowohl gegen
eine liberale Gesellschaftsordnung als auch gegen den Normativismus.
Die Basis für ein totales Herrschaftssystem war gelegt.
Diese neue Rechtsidee
war von rassischen Grundwerten geprägt, Auf spezifische
Inhalte dieses neugewonnenen 'Volksgeistes' wird später
einzugehen sein. Hervorzuheben ist der aggressive Charakter
der neuen Rechtsidee. Daß das Recht nun nur noch die
Interessen eines Teils der Bevölkerung - nämlich
der deutschen - wahrnehmen sollte, störte nicht im geringsten.
Der Weg war frei für zahllose Merksätze wie diesen:
"Recht ist, was dem deutschen Volke
nützt, Unrecht, was ihm schadet."
Damit diese Weltanschauung
auch wirklich das gesamte Rechtsleben und damit auch das gesamte
Volk erfassen würde, mußte nun überprüft
werden, welche der alten Begriffe und Methoden den 'neuen
Geist' in sich aufzunehmen vermochten oder aber als "schädliche
Überbleibsel verworfen" werden mußten. Darauf ist
im folgenden einzugehen.
III. Methoden
der Rechtserneuerung
Erklärtes Ziel der
Rechtsrevolution war eine "Auslegung zur Einlegung der nationalsozialistischen
Weltanschauung", die Dienstbarmachung der gesamten Rechtsordnung
im Sinne der neuen Staatsideologie. Carl Schmitt stellte diesbezüglich
fest:
"Sobald Begriffe
wie 'Treu und Glauben', 'gute Sitten' usw. auf das Interesse
des Volksganzen bezogen werden, ändert sich in der
Tat das gesamte Recht, ohne daß auch nur ein einziges
'positives' Gesetz geändert zu werden brauchte."
Bislang war es Aufgabe
der Richterschaft, durch Auslegung der Gesetze den Inhalt
entsprechender Klauseln zu ermitteln. Zur Erfüllung dieser
Aufgabe war der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit
von zentraler Bedeutung: Eingriffe von seiten der Politik
wären gleichbedeutend mit einem Status blanker Willkür
der Herrschenden.
Zum einen wurde dieser
Grundsatz von nationalsozialistischer Seite fortwährend
angegriffen. Andererseits wurde die Richterschaft durch gezielte
Personalpolitik zumindest langfristig 'angepasst' zur Sicherstellung
der neuen Einheit. Einen dritte Pfeiler bildeten eine Reihe
von Empfehlungen an die Richterschaft. Diese Empfehlungen
waren begleitet von Darlegungen im juristischen Schrifttum,
nach welchen die nationalsozialistische Weltanschauung auch
schon nach den herkömmlichen Methoden bei der Gesetzesauslegung
zu berücksichtigen sei. Auf diese Weise konnten sogar
direkte, allzu offensichtliche Eingriffe in die richterliche
Unabhängigkeit unterbleiben.
Die zwingende Berücksichtigung
der nationalsozialistischen Weltanschauung ergab sich zunächst
aus einer neuen Rechtsquellenlehre.
1. Die
neue Rechtsquellenlehre
Als Rechtsquelle werden
die Grundlagen bezeichnet, in denen der Richter das anzuwendende
Recht zu finden hat; Rechtsquellen stellen den Erkenntnisgrund
für etwas als positives Recht dar. Klassische Rechtsquellen
sind die Verfassung, das einfache Gesetz, Verordnungen, Satzungen
sowie Gewohnheitsrecht.
Diese 'alten' Rechtsquellen
waren mit der nationalen Erhebung überwunden. Eine neue
Rechtsidee war proklamiert. Fraglich war nur, wie sich die
eher unpräzisen Formulierungen vom Wesen des Volkes bzw.
der Volksgemeinschaft mit Inhalt füllen sollten. Man
verwies hierzu auf Grundwertungen der nationalsozialistische
Weltanschauung, das Parteiprogramm der NSDAP, den Führerwillen
und das gesunde Volksempfinden.
a. Inhalt der
nationalsozialistische Weltanschauung
Allumfassend und doch
inhaltlich unklar war die häufig verwendete Formulierung
der nationalsozialistischen Weltanschauung. Klar war nur,
das die Weltanschauung von prinzipieller Bedeutung sein sollte.
Grundlage war die Einheit von Politik und Staat, genauer von
Partei und Staat. Dessen Ziel war die Beseitigung alles 'alten
und jüdischen' aus dem gesamten öffentlichen Leben.
Diese nationalsozialistische Staatsideologie wurde als ausschließliches
und wahres Volksbewußtsein ausgerufen:
"Wie überall,
muß auch auf dem Gebiete des Rechts die Partei und
ihre Idee den Staat lenken, denn der Staat ist auch im
Recht nur Mittel des Führers zur Verwirklichung des
Nationalsozialismus."
Als Recht galt nach Parteiräson
nur dasjenige, das die Substanzwerte des Volkes schützt.
Bestimmend war daher an der nationalsozialistischen Weltanschauung
die ihr zugrunde liegende Rassenideologie. Weitere Elemente
lieferte der starke Judenhaß, die Vergötzung des
(angeblichen) biologischen Auslesekampfes sowie das Bekenntnis
zum Führerprinzip. Insgesamt bot die Berufung auf die
nationalsozialistische Weltanschauung eine willkommene Möglichkeit,
sich bei jeder unerwünschten Entwicklung mehr oder minder
spontan auf deren Nichtkonformität zu berufen.
b. Parteiprogramm
der NSDAP
Eine weitere neue Rechtsquelle
war das 25-Punkte-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920.
Die Partei war als Stimme des Volkes auch in ihrem Programm
nicht als Rechtssetzer, sondern als Stimme des Volksgewissens
tätig geworden. Insbesondere die Punkte 4 und 5 wurden
oft als unmittelbar geltendes Recht herangezogen:
"4. Staatsbürger
kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann
nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme
auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.
5. Wer nicht Staatsbürger
ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können
und muß unter Fremdgesetzgebung stehen."
Ferner wurde der Programmsatz
"Gemeinnutz vor Eigennutz" aus Punkt 24 hervorgehoben. Die
oben dargestellte Einheit von Politik und Staat wurde damit
auf die Spitze getrieben. Ein praktisch direkt nach dem Kriege
entworfenes, politisch bedeutungsloses und intern verachtetes
Pamphlet war plötzlich zur hochrangigen Rechtsquelle
geworden und wurde in der Rechtslehre häufig herangezogen.
c. Führerwillen
Wurde für die vom
Liberalismus bestimmte Vergangenheit noch noch ein Mangel
an Führerpersönlichkeiten beklagt, so traf dies
für die Zeit nach 1933 nicht mehr zu. In dem Führer
nun sollte sich das Rechtswollen des Volkes, die oberste Erkenntnisquelle
des Rechtes, manifestieren: dem Gesetzesrecht ging der formlose
Führerbefehl vor.
Die Person Adolf Hitlers
wurde schlicht vergöttert: ein gottgesandter Führer,
der als Auserwählter den Volksgeist Angesicht zu Angesicht
geschaut hat, öffnete nun seinem Volk die Augen. Als
Verkünder der neuen Weltordnung sei er selbstverständlich
der neue Gesetzgeber.
Diese nach der nationalsozialistischen
Rechtslehre folgerichtige Entwicklung hatte die vollständige
Freiheit der politischen Führung von jedweder Bindung
zur Folge. Die auf eine Person reduzierte Regierung bestimmte
die Maßstäbe ihres Handelns selbst.
d. gesundes Volksempfinden
Als ein weiteres Mittel,
um die NS-Ideologie in das geltende Recht zu pressen, war
die Berufung auf das gesunde Volksempfinden. Dies wurde bestimmt
als das rassisch bedingte, im Volke gegenwärtig herrschende
Richtigkeitsempfinden. Dieses Empfinden sollte sich auf die
Reinheit des Blutes, die Stärkung der Lebenskraft des
Volkes, die Programmfloskel 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz'
sowie den Schutz des Staates beziehen.
Die Unbestimmtheit der
als 'lebendig' beschriebenen Rechtsquelle, die nur 'innerlich
zu erfassen' war und damit der Verlust jeglicher Rechtssicherheit
bedeutete, wurde nicht als problematisch angesehen. Zum einen
wäre jedem Volksgenossen der Wandel der Sittenordnung
stets bekannt, läge ihm sozusagen 'im Blut'. Zum anderen
sei der Begriff der Rechtssicherheit neu definiert worden:
er beträfe nur noch die Voraussehbarkeit der Folgen anständigen
Handelns. Um immer noch in voller Rechtssicherheit zu leben,
müßte sich jeder nur anständig verhalten.
Dies wäre schon deswegen völlig unproblematisch,
weil jeder Volksgenosse die aktuellen Maßstäbe
des Anstandes 'in sich trägt'.
Die Tragweite dieser
Argumentation ist immer wieder hervorzuheben: das gesunde
Volksempfinden war nicht nur Maßstab für die Rechtsfindung
bei unbestimmten Rechtsbegriffen oder Generalklauseln. Im
Konfliktfall war der Richter aufgrund dieser Rechtsquelle
ermächtigt, Gesetzesrecht nicht anzuwenden.
2. neue
Auslegungsmethoden und Rechtsgrundbegriffe
Neben der neuen Rechtsquellenlehre
wurden auch neue Auslegungsmethoden diskutiert. Das Ziel des
Methodendiskurses sollte ebenso wie alle übrigen Darstellungen
und Bemühungen letztlich dem Rechtswillen der Gegenwart
bzw. der politischen Führung uneingeschränkte Geltung
verschaffen.
a. Auslegungsziel:
Vorrang nachrevolutionärer Gesetze
Bei der Gesetzesauslegung
war zunächst ein Problem zu bewältigen, das sich
dann stellte, wenn ein Gesetz aus der Weimarer Zeit unvereinbar
erschien mit einem der Nationalsozialisten. Die Lösung
stand natürlich von vornherein fest: 'volksfeindliche'
Gesetze sollten nicht angewendet werden. Lediglich über
die Methode bestand Streit.
Zum einen sollte eine
stärkere objektive Auslegung in den Wortlaut des Gesetzes
den gegenwärtigen Rechtswillen 'hineinlesen'. Beweggründe
des Gesetzgebers zum Zeitpunkt des Erlasses wären nachrangig
zu berücksichtigen.
Andererseits wurde vorgeschlagen,
bei nachrevolutionären Gesetzen durch subjektiv-teleologische
Auslegung sehr streng nach dem Wortlaut auszulegen. Nur durch
sie sei unverfälschte Geltendmachung des Führerwillens
zu erreichen.
Der methodischen Unklarheit
angemessen war auch die Anwendung beider Methoden zur Erreichung
des vorbestimmten Ziels unter den Vorschlägen. Da das
Ergebnis ohnehin stets feststand, schien der Methodenstreit
noch ein Überbleibsel aus vergangener, von normativem
Rechtsdenken geprägter Zeit. Auch die scheinbare Fortführung
solcher Methodendiskurse konnte letztlich nicht darüber
hinwegtäuschen, wohin man sich begab: ins Land der unbegrenzten
Möglichkeiten.
In diesem Zusammenhang
entwickelte sich in der Rechtsprechung zudem eine 'Kampfklausel',
eine Generalklausel zur Nichtanwendung von alten Gesetzen.
Unter Berufung auf den Willen der Regierung war es damit möglich,
unerwünschte geltende Gesetze zu überspielen.
b. Generalklauseln
So wie Generalklauseln
heute als Einbruchstellen für Wertungen des Grundgesetzes
gelten, wurden sie auch im Nationalsozialismus als Einbruchstellen
für die herrschende Wertanschauung, insbesondere der
Rassenlehre, verwendet.
Bereits in der Weimarer
Republik hatten Generalklauseln erhebliches Gewicht gewonnen.
In der berühmten Reichsgerichtsentscheidung RGZ 107,
78 wurde unter Berufung auf die Generalklausel des § 242 BGB
der gesetzlich fixierte Grundsatz 'Mark gleich Mark'
aufgegeben. Im grundsätzlichen Bewußtsein um ihre
Gefährlichkeit wurde unter Hinweis auf die Gewissenhaftigkeit
des deutschen Richterstandes die Verwendung von Generalklauseln
mit erheblicher Tragweite alltäglich.
Grundsätzlich war
der sich in der Beliebtheit der Generalklauseln offenbarende
Irrglaube an die Lückenlosigkeit des Gesetzes willkommenes
Schmähziel der Nationalsozialisten. Während entsprechende
Klauseln in der liberalen Gesellschaftsordnung der Weimarer
Republik jedoch lediglich Floskeln zur unbedingten Erhaltung
des Individualschutzes bzw. der Individualwillkür darstellten,
seien nun die Zeit gekommen, die leeren Worte mit Inhalt zu
füllen. Damit machte man sich bewußt die Generalklauseln
zunutze. Die Schwierigkeit, den Inhalt solcher wertoffener
Begriffe zu bestimmen, erleichterte diese Zielsetzung erheblich.
Zwar war für die
alte liberalistische Rechtslehre klar, daß es sich etwa
beim Begriff 'Treu und Glauben' um einen objektiven Begriff
ohne subjektive Wertungen handeln müsse. Dieser sei jedoch
"leichter zu empfinden als klar zu formulieren". Insgesamt
wendete man diese Formel im Sinne einer unparteiliche Abwägung
der beteiligten Interessen an.
Die Relativität
von Rechtsverhältnissen war nach 1933 zugunsten einer
allumfassenden Volksbezogenheit durchbrochen. Die sittlichen
Wertungen hatten sich mit den rechtlichen vermischt. Maßgeblich
war somit die herrschende Wertauffassung. Und geherrscht wurde
in "heldischer Entschlossenheit": jegliche Unterwerfung unter
fremdes Rechtsdenken war zu verhindern. In jedem Rechtsverhältnis
war nun neben den Parteiinteressen zugleich das unmittelbare
Volkswohl betroffen. Dieses galt es stets zu berücksichtigen.
Die Unmöglichkeit andersliegender Entscheidungen als
solcher nach nationalsozialistischer Doktrin wurde zum beherrschenden
Dogma.
Die Wirkung der Generalklausen
beschränkte sich nun nicht nur auf das Bürgerliche
Gesetzbuch. Vielmehr wurde auch hier eine Entwicklung der
Weimarer Zeit fortgesetzt. Generalklauseln waren schon dort
in allen Rechtsgebieten auf dem Vormarsch. Neben wettbewerbsrechtlichen
(§ 1 UWG) und strafrechtlichen Vorschriften waren auch die
zahlreichen Notverordnungen der letzten Jahre der Republik
sowie letztlich Art. 48 WRV selbst durchzogen von Generalklauseln.
Im Dritten Reich sollte sich die (damals noch warnende) Prophezeihung
Hedemanns erfüllen:
"Wo eine übergeordnete
Macht Generalklauseln setzt und unabhängige Richter
die Klauseln handhaben, bleiben die Klauseln trotz ihrer
Beweglichkeit Maßstäbe. Wenn aber der Staat
als oberste Macht selbst die Generalklauseln für
sein eigenes Verhalten setzt, fließt der Beweglichkeitsfaktor
mit dem Machtfaktor in eins zusammen, die Generalklausel
hört auf Maßstab zu sein und wird zur einseitig
und unkontrollierbar zu führenden Waffe.
(...) An Stelle einer
eingebildeten oder gar vorgetäuschten Gerechtigkeit
setzt sich die Willkür."
c. Gemeinwohlformeln
Eine weitere Möglichkeit,
die nationalsozialistischen Schlagwörter in der Gesetzesanwendung
unterzubringen, bot die Berufung auf Gemeinwohlformeln. Zuerst
tauchten solche in großer Vielzahl im Parteiprogramm
der NSDAP auf: Interessen der Allgemeinheit (Punkt 10), nationale
Bedürfnisse (Punkt 17), Gemeininteresse (Punkt 18), Gemeinwohl
(Punkt 23) und schließlich Gemeinnutz (Punkt 24).
Durch die Trennung von
Recht und Politik waren diese Formeln bereits unter den ohnehin
anzuwendenden Auslegungsgrundsätzen. Zusätzlich
wurden Gemeinwohlformeln nicht nur als Auftrag an den Gesetzgeber
verstanden und verwendet, sondern auch als rechtspolitisches
Programm jeder Rechtsanwendung durch den Richter.
Natürlich bestimmte
sich das Gemeinwohl -wie alles 'Recht' - aus der nationalsozialistischen
Weltanschauung. Durch die besondere inhaltliche Unbestimmtheit
der Gemeinwohlbegriffe (sofern gegenüber dem oben Gesagten
noch eine Steigerung möglich ist) war eine plötzliche
Änderung der Willensrichtung zusätzlich erleichtert.
d. unbestimmte
Rechtsbegriffe als neue Rechtsgrundbegriffe
Die proklamierte Einheit
der Volksgesamtheit als Ursprung allen Rechts ist bereits
beschrieben worden. Hieran anknüpfend entwickelten Carl
Schmitt und Karl Larenz die neuen Rechtsgrundbegriffe des
konkreten Ordnungsdenkens bzw. der konkret-allgemeinen Begriffe.
Rechtserscheinungen des
Alltags, etwa ein Mietverhältnis, Arbeitsverhältnis,
Vaterstellung oder Arbeitgeberposition wurden bisher als Bündel
einer Vielzahl subjektiver Rechte und Pflichten verstanden.
Dieses Bündel sollte sich nun in dem übergeordneten
weltanschaulichen Zusammenhang zu einer Einheit zusammenfügen.
Unter Bezugnahme auf reale Erscheinungsbilder (wie etwa die
Familie, das Arbeitsverhältnis, die Hausgemeinschaft)
wurden aus letztlich metaphysischen bzw. ideologisch geprägten
Begriffen Rechtsfolgen abgeleitet.
Letztlich diente auch
dieses juristische Konstrukt, die Erklärung allen Handelns
zum Bestandteil einer höheren, völkischen Ordnung,
wie alle anderen Leitlinien und Abhandlungen nur der Erreichung
der erwünschten Rechtsfolgen, nämlich einer rücksichtslosen
Hervorhebung des Deutschen an sich. Die Folgen solcher Argumentationsfolgen
waren weitreichend und erschütternd:
"Nicht als Individuum,
als Mensch schlechthin oder als Träger einer abstrakt-allgemeinen
Vernunft habe ich Rechte und Pflichten und die Möglichkeit,
Rechtsverhältnisse zu gestalten, sondern als Glied
einer sich im Recht ihre Lebensform gebenden Gemeinschaft,
der Volksgemeinschaft. Nur als in der Gemeinschaft lebendes
Wesen, als Volksgenosse ist der Einzelne eine konkrete
Persönlichkeit. Nur als Glied der Volksgemeinschaft
hat er seine Ehre, genießt er Achtung als Rechtsgenosse.
(...) Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse
ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte
an Stelle des die Rechtsfähigkeit 'jedes Menschen'
aussprechenden § 1 BGB an die Spitze unserer Rechtsordnung
gestellt werden."
IV. Zusammenfassung
Die anfängliche
Zielsetzung, die 'feindliche Übernahme' einer gesamten
Rechtsordnung war geglückt. Durch die Proklamation einer
neuen Rechtsidee waren die Gesetze der Weimarer Zeit nur noch
ein Spielball der neuen Machthaber, der Nationalsozialisten.
Die Methoden folgten
einander scheinbar zwingend: Recht und Gesetz war nicht mehr
eins. Die Maßstäbe für die neugeschaffene
Gerechtigkeit trafen in einem verwirrten Deutschland scheinbar
auf fruchtbaren Boden. Hieraus ergibt sich das für den
Juristen besonders Erschreckende: nicht die während der
kurzen Herrschaftszeit der Nationalsozialisten erlassenen
Gesetze zerstörten die ehemals liberale Rechtsordnung;
vielmehr war es die Jurisprudenz selbst, welche die Freiheit
des einzelnen ins Grab stieß. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 19. Februar 1957 heißt es dazu:
"Daß die im
Urteil angeführten Zitate die damals so gut wie einhellig
vertretene rechtswissenschaftliche Meinung [hier: zur
ideologischen Gebundenheit des Berufsbeamtentums im 3.
Reich, Anm. d. Verf.] richtig wiedergegeben habe, ist
für jeden, der die Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland
selbst miterlebt hat, evident und jedenfalls für
das Bundesverfassungsgericht gerichtsbekannt."
Welche Schlüsse
lassen sich nun aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen? Zum
einen ist es der vorsichtige Gebrauch der dargestellten und
oft ohne Bewußtsein ihrer Ideologieanfälligkeit
angewendeten Methoden. Zum anderen ist es die stete Mahnung
und das Erinnern an die Abgründigkeit, zu der der Mensch
fähig ist.
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