Kommunitarismus in Recht und Philosophie
- Philip Selznick: The Moral Commonwealth
-
From Law To Justice
Inhaltsverzeichnis
From Law to Justice *
I. Einleitung *
II. Ausgangspunkt: Die Trennung von Recht und Gerechtigkeit *
III. Philip Selznick: Recht verspricht Gerechtigkeit *
IV. Bestätigung im Rechtspositivismus und in den Naturrechtslehren *
1. Unabhängigkeit des Rechts von der Gerechtigkeit *
2. Materiale Naturrechtslehren *
VI. Abschließende Beurteilung *
From Law to Justice
I. Einleitung
Eine moderne Gesellschaft
lebt von ihrer Diversität und gleichzeitig von ihrer
Kapazität zur Integration. Dieses Spannungsverhältnis
zu lösen ist die Aufgabe der 'Civility', deren wichtigster
Ausdruck die Gerechtigkeit ist. Im zwölften Kapitel seines
Werkes "The Moral Commonwealth" entwirft Philip Selznick daher
sein Konzept von Gerechtigkeit und zieht daraus Folgerungen
für die Gesellschaftsorganisation.
Die Gerechtigkeit entstammt
demnach der Sphäre des Allgemeininteresses und ist grundsätzlich
unpersönlich, rational und umfassend. Damit ist noch
nicht festgelegt, worin nun die Grundlage des Concepts of
Justice bestehen soll: in apriorischer Wahrheit oder faktischem
gesellschaftlichen Konsens.
Über diese Grundfrage
hinaus, gleichsam als Vorfrage versucht Selznick zu klären,
welche Verbindung Recht und Gerechtigkeit zueinander aufweisen.
Um dem ungelösten Problem der apriorischen Wahrheiten
von vornherein zu entkommen, um eine praxis- und ergebnisorientierte
Gerechtigkeitskonzeption zu liefern, aber auch um die seit
Jahrhunderten zerstrittenen Lehren zu versöhnen, überrascht
er den Leser mit einer folgenreichen Feststellung schon zu
Beginn: "law and justice have a special affinity".
Ziel dieser Arbeit ist
es nun herauszuarbeiten, inwieweit Selznick sich mit dieser
Feststellung auf bereits existierende Elemente des Positivismus
bzw. der Naturrechtslehren berufen kann. Vom Ergebnis dieser
Prüfung hängt mithin die Beurteilung des "wirklich
Neuen" der vorgestellten Gesellschaftskonzeption ab.
II. Ausgangspunkt: Die Trennung von
Recht und Gerechtigkeit
Zu Beginn der Betrachtung
soll die Lehre vom Rechtspositivismus dargestellt werden,
die um die Eindeutigkeit und Klarheit des Rechts bemüht
ist. Sie trennt scharf zwischen tatsächlich existentem
Recht einerseits und der Gerechtigkeit andererseits. Im Anschluß
an das 'Dreistadiengesetz' Auguste Comtes, nach dem sich die
menschliche Erkenntnis von der Theologie über die Metaphysik
zuletzt in der positiven Wissenschaft begründet, beschränkte
sich Recht auf dasjenige, was empirisch feststellbar ist.
Recht kann daher nur sein, was sich als das Ergebnis bestimmter
Prozeduren - etwa Gesetzgebungsverfahren - ergibt und besitzt
keinerlei Hinweis auf seinen innewohnenden moralischen Wert
. Hinsichtlich seines möglichen Inhaltes ist dieses Recht
vollkommen frei: "Es gibt kein menschliches Verhalten, das
als solches kraft seines Gehaltes ausgeschlossen wäre,
Inhalt einer Rechtsnorm zu sein."
Der Rechtspositivismus
hat mit seinem "scharfkantigem Rechtsbegriff" ein hohes Maß
an Klarheit und Rechtssicherheit geschaffen: jedes Gesetz
muß unbedingt eingehalten werden. Die Beseitigung unerwünschten
Rechts ist nur mittels der dafür vorgesehenen Prozeduren
möglich.
Während Selznick
die daraus resultierende genaue Trennung der einzelnen Institutionen
und die Notwendigkeit institutioneller Integrität ausdrücklich
lobt, distanziert er sich jedoch vom starren Systemdenken
der Positivisten. Die Gefahr eines 'Legalismus' als Ergebnis
übertriebener, starrer Gesetzestreue ist mit der Vorstellung
nicht bloß formaler Gerechtigkeit unter der Zielvorstellung
einer Mediation widerstreitender Interessen zum Wohle der
Gesellschaft unvereinbar. Um nicht bloß einen gesellschaftlichen
Status Quo zu erhalten, sondern auf die Entwicklungen und
Probleme der jeweiligen Gegenwart reagieren zu können,
favorisiert er eine flexiblere Rechts- und Gerechtigkeitsauffassung.
III. Philip Selznick: Recht verspricht
Gerechtigkeit
Ausgangspunkt ist die
Feststellung, daß auch der formale Gesetzgebungs- bzw.
Rechtsentwicklungsprozeß mehr als das bloße Befolgen
prozeduraler Normen ist; stets wären auch die unterschiedlichsten
Überzeugungen und Prinzipien miteinbezogen, die das Ziel
der Gesetzgebung bestimmen. Aus der Fülle der Rechtsideen
greift Selznick die Legalitätsprinzipien besonders heraus:
Verbot des Einzelfallgesetzes, Öffentlichkeit, Beschränkung
auf das Mögliche, Verständlichkeit und Kontinuität.
Diese Prinzipien seien als dem Recht innewohnende (Vernunfts-)
Prinzipien stets der Ausgangspunkt für weiteres Rechtsdenken.
Am Beispiel von Mens Rea
illustriert er die Funktion solcher Prinzipien als Bindeglieder
zwischen Regeln und Werten, zwischen Recht und Gerechtigkeit.
Als Ausgangspunkt juristischen Denkens beeinflußt dieses
Prinzip die Beurteilung der Strafwürdigkeit von Kindern
oder Geisteskranken. Auch wenn das Prinzip nur Ideal einer
bestimmten Kultur ist, so liefert es doch eine gefestigte
Position, die zwar nicht jede Abweichung verbietet, aber für
abweichende Entschlüsse doch eine Rechtfertigung verlangt.
Diesen Prozeß des
Wandels "aus dem Recht selbst heraus" unter fortwährendem
Begründungszwang auch zur Aufrechterhaltung der Legalitätsprinzipien
versteht Selznick als Grundlage für eine Entwicklung
zur Gerechtigkeit. Das Recht entwickelt sich dadurch unter
günstigen Bedingungen vom bloßen 'operative system'
zu einem (möglichst) gerechten Rechtssystem.
Nun ist auch die Bemerkung
der Einleitung verständlich, nach der Recht zwar nicht
notwendigerweise gerecht ist, aber doch Gerechtigkeit in Aussicht
stellt. Eine günstige weitere Entwicklung vorausgesetzt,
verspricht allein die Existenz irgend einer Form von Recht,
auch der ursprünglichsten, d.h. lediglich das bislang
Ungeordnete nur rudimentär ordnenden, daß dieses
bereits den Keim zur Gerechtigkeit in sich trägt.
IV. Bestätigung im Rechtspositivismus
und in den Naturrechtslehren
Selznicks These ist Bestandteil
beider Strömungen, versucht diese auch ausdrücklich
miteinander zu versöhnen. In ihr sind damit Teile des
Rechtspositivismus wie auch der Naturrechtslehren enthalten.
Folgend werden die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede
des kommunitaristischen Ansatzes Philip Selznicks zu Vertretern
der 'Spielarten' beider Theorien dargestellt.
1. Unabhängigkeit des Rechts
von der Gerechtigkeit
Der klassische Rechtspositivismus
des neunzehnten Jahrhunderts kann die Verbindung von Recht
und Gerechtigkeit, wie Selznick sie dargelegt hat, nicht hinnehmen.
Die strenge Trennung des Rechts von allen subjektiven Unsicherheiten,
allerdings auf der Grundlage einer 'normativen Kraft des Faktischen',
läßt das Eintreten - nach positivistischer Auffassung
notwendigerweise subjektiver und unbestimmbarer - sittlicher
Wertungen 'durch die Hintertür' nicht zu.
Bei einer Betrachtung
der geistigen Grundlagen, die eine Entwicklung zum Positivismus
erst ermöglicht haben, findet sich diese Strenge jedoch
nicht.
Der Grundstein für
eine Trennung von Recht und Rechtsidee mit der Möglichkeit
geltenden 'Unrechts' wurde mit der Aufdeckung der Positivität
des Rechtes als eine wirklichkeitsgestaltende Kraft durch
Thomas Hobbes gelegt. Nicht die naturrechtlichen Grundsätze
gehören zum Recht, da diese ohne eine Kraft, die für
ihre Durchsetzung sorgt, den einzelnen nicht beschützen
können. Auf diese Schutzfunktion kommt es jedoch an:
Recht kann nur sein, was Frieden zwischen den Menschen schafft,
also konkret die Wirklichkeit ordnet.
Diese Ordnungsfunktion
ist für den Rechtspositivismus elementarer Bestandteil.
Hobbes folgert allerdings den Staat aus einer bestimmten Natur
des Menschen, die grundsätzlich eine zerstörerische
ist. Der Staat als ordnungs- und friedenstiftende Kraft ist
notwendige Folge dieser menschlichen Natur, und über
diese Notwendigkeit lassen sich auch weitere Grundvoraussetzungen,
letztlich Naturrechte, folgern. Gleich den Rechtspositivisten
hat Hobbes zur Aufrechterhaltung der Ordnung jegliche Verletzung
des positiven Rechts verboten. Trotzdem war es ihm nicht unmöglich,
dieses Recht doch mit einer strengen naturrechtlichen Grundlage
zu versehen. In Anbetracht der Probleme, die der Rechtspositivismus
mit dem Hinweis auf die 'Normative Kraft des Faktischen' zu
überwinden sucht, um doch nur die Entscheidung für
eine bestimmte Ordnung zu meinen, erscheint die beharrliche
Weigerung vorbestimmter Wurzeln des Rechts weniger kraftvoll.
Etwas später führt
Samuel Pufendorf in seiner Naturrechtslehre die Trennung von
Gesetz und moralischer Wertung weiter. Ein Gegenstand ist
als Bestandteil der physischen Natur, der entia physica, ohne
jegliche sittliche Wertung. Diese wird erst gewonnen durch
Vergleich mit übergeordneten Sittennormen, der entia
moralia, die ihrerseits die Vervollkommnung des menschlichen
Lebens zum Ziel haben. Auch die irdischen Gesetze sind also
an ein übergeordnetes Ziel gebunden, nämlich das
friedliche Verhältnis der Menschen zueinander. In ihrer
ursprünglichen Existenz sind Legalität und Moralität
jedoch getrennt.
Noch deutlicher als Pufendorf
hat Christian Thomasius die Trennung von Recht und Sittlichkeit
betont, indem er der Sittlichkeit jeglichen Gesetzescharakter
abgesprochen hat. Einzig die Befolgung positivgesetzlicher
Zwangspflichten begründet daher das Prädikat 'gerecht',
wogegen die sittliche Bewertung mit dem Wort 'tugendhaft'
ausgedrückt wird. Die übergeordneten sittlichen
Prinzipien gehören damit nicht mehr zum Recht. Im Gegensatz
zum Positivismus anerkennt Thomasius allerdings die Existenz
und Wichtigkeit eines göttlichen Gesetzes, welches lediglich
einer Möglichkeit zur Zwangsdurchsetzung ermangelt.
Zwischen Recht und Sittlichkeit
hat auch Kant unterschieden, allerdings nicht anhand des Merkmals
des äußeren Zwanges, sondern einer anderen Differenzierung:
Recht kann sich nur auf Legalität, Sittlichkeit auch
auf Moralität zur jeweiligen Durchsetzung berufen. Zur
Bestimmung der sittlichen Pflichten entwirft Kant die berühmte
Figur des kategorischen Imperativs. Auch hier besteht eine
Ähnlichkeit zur positivistischen Idee, nur wird die Figur
des Faktischen mit dem Versuch einer tatsächlichen Antwort
und nicht mit Ausweichen gegeben.
Eher die positivistische
Idee zu unterstützen scheint die Ansicht Savignys, die
im Zuge des historischen Relativismus die Rechtsentwicklung
einer inneren Notwendigkeit eines jeden Volkes, einem Volksgeist,
zuschreibt. Zwar betrifft diese Notwendigkeit nur das Gewohnheitsrecht
als 'eigentliches' Recht, aber bei einer Erstreckung auf den
gesamten Rechtsfindungs- und -kodifikationsprozeß entspräche
das positive Recht zumindest bei Kodifikation des bisherigen
Gewohnheitsrechtes auch annähernd dem 'eigentlichen'.
Die vorgestellten Lehren
stimmen mit der rechtspositivistischen Lehre insoweit überein,
als sie die Geltung des positiven Rechts nicht von seiner
Übereinstimmung mit übergeordneten sittlichen Normen
abhängig machen. Genau hier bekennen sie im Gegensatz
zu jenem jedoch Farbe: stets wurde der Versuch unternommen,
Lösungsansätze für die Frage nach der materialen
Gerechtigkeit aufzuzeigen, ohne die Rechtsordnung als solche
in Frage zu stellen bzw. insgesamt zu relativieren.
Selznicks These von der
jedem positiven (und damit notwendig menschlichen) Gesetz
innewohnenden Möglichkeit zu einer Entwicklung zur Gerechtigkeit
stimmt mit dem Festgestellten insofern überein, als die
Differenz von Sein und Sollen nicht die Legitimität des
Seins bestimmen soll. Selznick vermeidet es jedoch, sich zur
Bestimmung des 'wirklich Gerechten' auf eine bestimmte Methode
festzulegen. Damit erlaubt er jeder Epoche, eigene Ansätze
zu entwickeln, ist also ungleich offener für pluralistischen
Gedankenwiderstreit als die vorgestellten Lehren. Insofern
ist seine Gerechtigkeitsphilosophie mit starkem historischen
Einschlag, als sie versucht, die jeweiligen Abschnitte der
Sittlichkeitsentwicklung (wieder-)aufzugreifen und durch Erfahrung
und wiederkehrende Begründung weiterzuentwickeln.
Die Rechtslehren sind
bei der Geschichtlichkeit jedoch nicht stehengeblieben. Bei
Hegel schließt sich der geschichtliche Prozeß
mit den apriorischen Regeln der Sittlichkeit im Staat als
Wirklichkeit der konkreten Freiheit, einer Synthese von objektiver
und subjektiver Sittlichkeit, zusammen. Die positivrechtliche
Legalität ist demnach nur die objektive Seite der Sittlichkeit.
Die Gesetze selbst sind umgekehrt nur an die Achtung der konkreten
Freiheit des einzelnen, wie sie sich aus der Synthese mit
den Gesetzen ergibt, apriorisch gebunden. Hier zeigt sich
nun, daß "Hegels Rechtsphilosophie, wenn man es recht
versteht, die vollkommenste Gestalt einer materialen Naturrechtslehre"
ist. Sie unterscheidet sich damit von den anderen oben vorgestellten
Lehren, als nun das Naturrecht selbst Teil des positiven Rechts
ist. Auf die materialen Naturrechtslehren und deren Ursprung
wird folgend weiter einzugehen sein.
2. Materiale Naturrechtslehren
In materialen Naturrechtslehren
bestehen positives Recht und materiale Gerechtigkeit nicht
unabhängig nebeneinander. Vielmehr ist die materiale
Gerechtigkeit dem menschlichen Gesetz als überpositives
Recht übergeordnet. Aus dieser Sicht ist nun zu klären,
welche Lösungsvorschläge die jeweiligen Lehren anbieten,
um ein positives Gesetz hinsichtlich seines sittlichen (Versprechens-)Gehaltes
zu bewerten. Hieran wird Philip Selznicks eigener Vorschlag
zu messen sein.
Selznick beginnt den Abschnitt
'From Law To Justice' mit einem Zitat Heraklits: "Kämpfen
soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für
ihre Mauer." In Heraklits Lehre war Recht vom Gesetz zwar
begrifflich in Logos und Nomos differenziert, inhaltlich aber
waren "alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen"
genährt. Der Nomos ist also stets dem Logos abgeleitet,
und jener bestimmt auch den Gerechtigkeitsmaßstab: "Für
Gott ist alles gut und gerecht; die Menschen aber haben das
eine als ungerecht, das andere als gerecht angenommen." Diese
letztlich aristokratische Ethik kannte keine ungerechten Gesetze,
da das positive Recht nur Ausfluß der übergeordneten,
göttlichen Ordnung ist. Jedem Gesetz ist demnach nicht
nur der Samen zur Gerechtigkeit mitgegeben, vielmehr ist es
selbst Teil des Gerechten. Im fünften vorchristlichen
Jahrhundert wäre Selznicks These damit noch nicht notwendig
gewesen.
Der Hinweis, daß
die Rechtsordnung eines Volkes der Hauptpfeiler seiner kulturellen
Identität sei, wird zur Grundlage der folgenden sophistischen
Philosophie. Da der Mensch als "Maß aller Dinge" Ausgangspunkt
jeder Wertung ist, muß folgerichtig auch jede Ordnung
relativ auf das wahrnehmende Subjekt bezogen sein, muß
jede Gerechtigkeitsvorstellung dem fortwährenden Wandel
unterliegen. Bei einer solchen relativen Gerechtigkeitsvorstellung
wohnt den einzelnen Gesetzen nicht nur der Keim zur Gerechtigkeit
inne, sondern sie bestimmen den Inhalt des Gerechten jederzeit
neu. Der Konflikt, den Selznick zu lösen versucht, entsteht
erst bei einer Kombination der beiden letzten Philosophien:
eine notwendigerweise (auch) relative Rechtsordnung, die einen
Hinweis auf übergeordnete, feste Merkmale oder Prinzipien
der Gerechtigkeit hervorbringen kann.
Die erste Festlegung übergeordneter
Werte verfolgt Platon mit seiner Ideenlehre. Er beschränkt
die Möglichkeit der Ideenschau, der unfehlbaren Erkenntnis
der allem übergeordneten Ideen, auf wenige besonders
gebildete Weise, die Philosophen. Da deren Erkenntnis als
unfehlbar gilt, treten die menschlichen Gesetze noch nicht
mit der übergeordneten Wahrheit in Widerspruch.
Genauer unterscheidet
erst Aristoteles zwischen Naturrecht und menschlichem (gesetzlichem)
Recht, wenngleich wir "jede gesetzliche Vorschrift (...) als
gerecht oder Recht" bezeichnen. Prima facie erscheint damit
"alles Gesetzliche in einem bestimmten Sinne gerecht und Recht."
Allerdings gilt das Naturrecht - die natürliche Ordnung
- als das wesensmäßige Ziel des Seienden unabhängig
von menschlicher Bewertung, während das gesetzliche Recht
"ursprünglich indifferent ist, aber einmal durch Gesetz
festgelegt" wurde. Zwar setzt Aristoteles voraus, daß
nicht ein Tyrann, sondern die Vernunft Wächter des Rechtes
ist. Eine Entwicklung hin zum Gerechten ist aber insofern
bereits in der aristotelischen Philosophie vorhanden, als
die Entwicklung alles Seienden sich durch das Werden vollzieht.
Aristoteles ging hiermit jedoch nicht von einer historisch
bedingten Wandelbarkeit des Gerechten aus, sondern glaubte
fest an die eine natürliche Ordnung. Selznicks kommunitaristischer
Ansatz weist eine solchen Idealvorstellung nicht - zumindest
nicht ausdrücklich - auf.
Cicero und mit ihm die
Stoiker trennen nicht nur Recht und Gesetz begrifflich, sondern
ordnen das menschliche Gesetz (die Thesis) dem Naturrecht
unter. Das Menschengesetz hat demnach nur dann Gültigkeit,
wenn es nicht gegen die Natur der Dinge - das Naturgesetz
- verstößt. Im Zuge ihrer starken Innenbezogenheit
entwickelte sich nun der Gedanke, daß in jedem Menschen
bereits die Fähigkeit zur Einsicht des Natürlichen
und damit auch des Gerechten begründet liegt. Bei Cicero
prägt sich diese Lehre nun dergestalt aus, daß
die in der Form des allgemeinen Konsenses feststellbaren Gemeinsamkeiten
der sittlichen Anschauungen nur die natürliche Stimme
in jedem Menschen sprechen lassen. Ein Gesetz, daß unter
Zustimmung aller beschlossen wurde, ist damit auch stets ein
Teil des Naturrechts und damit auch gerecht. Inwiefern sich
Philip Selznicks These trotz ihres zunächst ähnlichen
Klanges hiervon unterscheidet, wird in einer abschließenden
Zusammenfassung zu klären sein.
Das aufkommende Christentum
trennt die Gerechtigkeit in eine menschliche, die von menschlichen
Gesetzen bestimmt wird, und eine göttliche, die allein
durch Gottes freie Wahl 'entsteht'. Nach Paulus liegt der
alleinige Weg zur Gerechtigkeit im Glauben, nicht im irdischen
Werk oder im Befolgen menschlicher Gesetze. Schließlich
hat Augustinus - allerdings unter Beibehaltung einigen platonischen
Gedankengutes - die menschlichen Gesetze als nur für
die Nichtchristen notwendig angesehen, um "unter unwissenden
Menschen" den Frieden zu erhalten. Später hat Luther
auch das menschliche bzw. irdische Recht unter das Regiment
Gottes gestellt, womit es für Christen wie Heiden gleichermaßen
gelten sollte. Allen gemeinsam war die Akzeptanz des menschlichen
Rechts als eine relative, situationsabhängige und daher
auch in seinem Wesen wandelbare Ordnung. Anders als bei Selznick
ist von Entwicklungsmöglichkeiten aus der Existenz des
Gesetzesrechts allein nie die Rede. Lediglich als notwendiges
Übel wird neben dem göttlichen Naturrecht noch eine
an sich wertarme Ordnung hingenommen.
Thomas von Aquin spricht
nun dem vom Naturrecht abweichenden Gesetz jede Gültigkeit
ab. Allerdings räumt er die Möglichkeit ein, selbst
eine solche Gesetzesverkehrung zu befolgen, nämlich um
Anstoß und Verwirrung zu vermeiden. Dem Phänomen
'Gesetz' kommt also bereits aufgrund seiner Existenz eine
grundsätzlich wünschenswerte Funktion zu. Diese
Auffassung wird noch verstärkt und mit materialem Gehalt
angereichert, als Thomas' Lehre von der Synderesis, dem angeborene
Erkenntnisvermögen der obersten Naturrechtssätze,
hinzugezogen wird. Die Überzeugung Selznicks, daß
die Beschäftigung mit Gesetzen und deren Inhalt zu einer
Entwicklung zur gerechten Ordnung führen kann, ist nun
kein allzu großer Schritt mehr.
VI. Abschließende Beurteilung
Die Wanderung durch die
Geschichte der Philosophie liefert zunächst die Erkenntnis,
daß die Problematik der Spannung zwischen Recht in der
Form des menschlichen Gesetzes und der Gerechtigkeit andererseits
schon von alters her erkannt wurde. Die vorgeschlagenen Lösungen
bedienen sich unterschiedlichster Axiome - der Natur des Menschen,
der Natur des Seins, Gott -, um mit dieser Hilfestellung das
Spannungsverhältnis auflösen zu können oder
- wie der Rechtspositivismus - gar nicht erst zur Entstehung
gelangen zu lassen. Bislang war jedoch keine Denkrichtung
in der Lage, endgültige oder überhaupt brauchbare
Richtlinien für eine gerechte Gesellschaftskonzeption
zu liefern.
Philip Selznick möchte
nicht zu einer der oben vorgestellten Gruppen nur eine weitere
Spielart hinzufügen. Vielmehr versucht er, die 'Streitparteien'
in einer Art von 'Prozeßvergleich' im Interesse einer
sachgerechten Lösung zusammenzufügen. Geleitet wird
er dabei einerseits von der Erkenntnis, daß den meisten
Theorien durchaus nützliche Elemente anhaften, und andererseits,
daß die starre Festlegung auf eine einzige und ausschließliche
Grundlage allen Seins etwa in der Form apriorischer Ideenlehren
nie zu langfristig überzeugenden Ergebnissen geführt
hat.
Den Ausgangspunkt für
eine Versöhnung sieht Selznick nun in der Diskussion
und stetiger genauer Überprüfung der vermeintlich
herrschenden Wertvorstellungen. Zwar indiziert eine lange
erfolgreiche Übung eine gewisse Legitimation, und umgekehrt
erregen 'aufzeigbar ungerechte Regelungen' einen gewissen
Argwohn, der mindestens einschränkende Auslegungen nahelegt;
entscheidend ist aber, daß eine Rechtsordnung keiner
Regel endgültigen Charakter zukommen läßt
und damit eine Regeländerung bzw. -anpassung unmöglich
macht. Selznicks Blick fällt in diesem Zusammenhang auf
die common-law-Tradition des angloamerikanischen Rechtskreises.
Die fortwährende richterliche Rechtsfortbildung durch
beständige Diskussion und Überprüfung im Rahmen
festgelegter institutioneller Strukturen enthält die
geforderten Merkmale und ist damit wichtiger Bestandteil einer
kommunitaristischen Gesellschaftsordnung.
Diesem 'Recht im Fluß'
wird aber ein anderes, eher statisches Gebilde entgegengesetzt:
die Verfassung. Sie hat die Aufgabe, die verfassungsrechtlichen
Erfahrungen der Gemeinschaft gebündelt darzustellen und
- im Rahmen möglicher Aktualisierungsverfahren - zu konservieren.
Die Verfassung setzt der Gegenwart des common law die Geschichte
der Gemeinschaft autoritativ gegenüber und bindet die
gegenwärtige Rechtsentwicklung damit im Rahmen der andauernden
Überprüfung zumindest prima facie an übergeordnete
Grundprinzipien und -werte. Dieses Zusammenspiel von Bewahren
und Entwickeln stellt insgesamt den Rahmen dar, innerhalb
dessen sich der Keim der Gerechtigkeit im Gesetz entfalten
kann.
Umgeht Selznick damit
wirklich die Problematik apriorischer Wahrheitssuche? Zwar
ist eine unveränderbare Grundidee seinen Ausführungen
niemals explizit zu entnehmen - doch ist seine Konzeption
stark auf die Geschichte der jeweiligen Gemeinschaft ausgerichtet.
Im Laufe der Zeit bilden sich innerhalb der Gesellschaft Überzeugungen
und Grundprinzipien, die häufig über bloße
Grundregeln des Rechtsdenkens hinausgehen. Der Blick auf die
Überzeugung der stoischen Philosophie, daß die
natürliche Stimme im Menschen stets zum Gerechten strebt,
sowie auf die insoweit ähnliche Lehre des Thomas von
der Synderesis legt daher die Vermutung nahe, daß hier
eine ähnliche Grundüberzeugung nicht beim Namen
genannt wird.
Die starke Berücksichtigung
der Geschichte und Eigenarten einer Gemeinschaft ruft im ausgehenden
zwanzigsten Jahrhundert immer noch die Erinnerung an negative
Erfahrungen hervor. Philip Selznick distanziert sich an vielen
Stellen seines Werkes überzeugend von den Fehlleistungen
der Geschichte. Zudem können negative Erfahrungen nicht
jegliche Berücksichtigung gewachsener Kulturen mit erheblichem
Makel belasten. Eine Gemeinschaft ist niemals ohne ihre Geschichte
zu verstehen, und ohne Rücksichtnahme auf ihre Geschichte
wird auch eine Gerechtigkeitsvorstellung nicht aus der Gesellschaft
selbst stammen können.
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